Verzögerungen

Der „cultural lag“, die Verzögerung in der Umsetzung wissenschaftlicher Erkenntnisse in der Sportspielvermittlung insbesondere im Tennis

In den vergangenen Jahren hat sich viel getan in der Methodik und Didaktik des Tennislehrens. Der ausschließlich an der Vermittlung einer Lehrbuch-Technik orientierte „methodische Traditionalismus“ wurde zurückgedrängt und in der Folge von „play and stay1“ und einem spielerischen Lernen hat sich die Einstellung vieler Coaches verändert. Kaum jemand, der heute nicht auf, an das Lernalter und den Entwicklungsstand der Spieler*innen, angepasste Materialien zugreift (unterschiedliche Bälle, Schläger, Spielfelder und Wettkampfformen) und die Lernenden vor allem spielen lässt.

Dennoch lassen sich weiterhin bestimmte Phänomene beobachten, die ich als „Wurmfortsätze“ aus dem Lehrbuch-orientierten Tennistraining und dem methodischen Traditionalismus bezeichnen würde.

  • Viele Coaches überbewerten weiterhin Technikkorrekturen. Keine Trainingsstunde ohne Korrekturen an der Schlagtechnik. Selbst Untersuchungen, dass mehr als eine Information in so einem Zeitrahmen nicht behalten wird, werden dabei ignoriert oder sind nicht bekannt.

  • Spieler*innen erwarten vom Coach, dass er ihnen sagt, was sie „falsch machen“ und wie es „richtig geht“, auch wenn wissenschaftliche Studien zum motorischen Lernen die Nachteile dieser Art der Sportspielvermittlung zeigen. LINK

  • Kolonnentraining nimmt im Vereinstraining immer noch einen großen Raum ein. Begründet wird es unter anderem damit, dass in dieser Organisationsform Technikkorrekturen leichter vorzunehmen und zu kontrollieren seien. Berechnungen zeigen aber auf, dass im Kolonnentraining nur ein Drittel der Bälle gespielt wird, wie in einem spiel- und handlungsorientiertem Training.

  • Die handlungs- und zielorientierte Entwicklung einer individuellen Technik in einem spielerischen Rahmen wird als „uneffektiv“ wahrgenommen.

Woher kommt dieser „cultural lag“, diese Verzögerung bis Verweigerung der Umsetzung wissenschaftlicher Erkenntnisse in der Sportspielvermittlung?

  • Ziel- und spielorientiertes Lernen wird als „uneffektiv“ bewertet, da das Spiel oft als Zeitverschwendung angesehen wird. Lernen im und durch Spielen hat in unserer Kultur noch immer einen niedrigen Stellenwert.

  • Lernerfolge kommen nicht direkt, sondern im Schlaf. Erst die neurologische Verarbeitung von neuen Situationen und Erfahrungen führt zu Anpassungs- und Veränderungsprozessen. Dies geschieht eben in der Regel im Schlaf. Das erfordert Geduld bei Coaches und Spieler*innen. LINK

  • Es gibt keine Garantien!

  • Coaches, die vor allem handlungs- und zielorientiert arbeiten, verzichten auf den „Expertenstatus“. Lernerfolge und -entwicklungen finden im Dialog mit dem Lernenden über die zu verändernden Rahmenbedingungen im Trainingssetting statt.

  • Die neuen Lernwege sollen den Spielraum in der Technikentwicklung erweitern und die (taktische und motorische) Kreativität der Spieler*innen fördern. Das ist ein sich ständig erweiternder Prozess, der sich in Sprüngen und nicht linear vollzieht (non-linear pedagogy) LINK

  • Spieler*innen und Coaches denken, dass der Coach der „Fachmensch“ ist. Er alleine weiß, wie „es geht“. Der Verzicht auf diesen Status fällt vielen (hauptberuflichen) Coaches schwer.

  • Das Vertrauen in die Selbstorganisationsfähigkeit der Lernenden und in die Veränderungs- und Anpassungsfähigkeit biologischer Systeme wie des menschlichen Körpers ist gering. (Dies mag auch eine Folge schulischer Sozialisation sein). LINK

  • Über Technikkorrekturen lassen sich kurzzeitige positive Veränderungen bewirken, die aber nicht nachhaltig und dauerhaft sind, da sie zum einen von der Anwesenheit des Coaches abhängig sind und zum anderen in der Regel nur in der speziellen Trainingssituation funktionieren. Die Trainingssituation wird häufig (bewusst oder unbewusst) vom Coach an die im Vorfeld erfolgte Technikkorrektur angepasst, so dass die Korrektur in dieser Situation auch funktioniert

  • Begriffe wie „Action approach“, Ziel- und Handlungsorientierung, systemisches Denken und implizites Lernen sind vielen Coaches unbekannt. Sie orientieren sich an dem, was sie aus ihrer eigenen Lernbiographie kennen. LINK

    1 Play and stay. www.tennisplayandstay.com

    2 Jia Yi Chow, Keith Davids, Chris Buttons, Ian Renshaw: Nonlinear Pedagogy in Skill Acquisition, 2015

 

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